David Bowie: Der Tag, an dem Ziggy Stardust vom Mars kam - WELT (2024)

Anzeige

Seit ein paar Tagen ist es ausgemachte Sache: Die Milchstraße stürzt in den Andromeda-Nebel. In vier Milliarden Jahren wird es knallen. Das heißt, nicht wirklich, weil sich so ein intergalaktischer Zusammenprall ironischerweise lautlos vollzieht. Die Erde kommt glimpflich davon, wird bloß einmal quer durch die Galaxis gekickt.

Anzeige

Die Meldung kam überraschend. Nicht, weil die kosmische Katastrophe selbst abwegig erschien. Nur musste man dreimal blinzeln, bis man sich auf den Horizont eingestellt hatte, so weit weg, so übermenschlich groß. Wir reisen schon lange nicht mehr auf den Mond, kürzlich hat die US-Regierung das Mars-Programm auf Eis gelegt, die ganzen Kriege waren einfach zu teuer.

Auch in unseren Träumen haben wir Science-Fiction längst gegen Fantasy eingetauscht: „Der Herr der Ringe“ statt „Star Wars“, „Game of Thrones“ statt „Raumpatrouille Orion“. Wie man etwa an der Schuldenschnitt-These des Occupy-Aktivisten David Graeber sehen kann, ist eine Vision zurzeit umso populärer, je mehr sie mit der Sehnsucht kokettiert, abstrakte Komplexität, die immer schon auf die Zukunft zielt, gegen die vermeintliche Schlichtheit früherer Zeiten einzutauschen.

Landung auf Londons Heddon Street

Anzeige

Als erste Maßnahme müsste man sich an David Bowies legendäres Album „Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“erinnern. Heute vor 40 Jahren landete es in der Londoner Heddon Street. Auf dem Cover steht Bowie unter einem Schild, auf dem „K. West“ steht, damals wohl ein Pelzhändler. Wahrscheinlicher indes scheint, dass der Erneuerer des HipHop, Kanye West, in diesen Tagen auf Deutschland-Tour, unbedingt dabei sein wollte, als Bowies Glam-Rock-Rakete hochging und die Popmusik für immer veränderte.

Wenn man das Album umdreht, ahnt man auch, wie Kanye hingekommen sein muss: durch die dort abgebildete Telefonzelle, die schon einem anderen Giganten der Science-Fiction, Dr. Who, als Zeitmaschine diente. Als sie 1998 abgerissen wurde, tobten die Fans, bis man an ihrer Stelle ein Replikat hinstellte. Angesichts der völligen Umarmung der Künstlichkeit, die das Ziggy-Projekt auszeichnete, kann man davon ausgehen, dass Bowie begeistert war: Authentizität raus, Simulation rein.

Zugegeben: Bowies berühmte Ziggy-Kluft – der orange Vokuhila, der gestreifte Overall, den anstelle von Schulterpolstern Heckspoiler zieren, und die feuerroten Plateau-Gummistiefel – wirkt inzwischen eher possierlich als zukunftsweisend (obwohl offenbar Lady Gaga demselben Schneider die Treue hält). Die Zukunft ist halt eine relative Angelegenheit. In der Hippie-Folk-Idylle des Juni 1972, dominiert von lieben Langhaarigen wie Cat Stevens und Don McLean, dessen Van-Gogh-Hommage“Vincent“ gerade die Charts anführte, schlug die durchgeknallte Kunstfigur Ziggy Stardust jedenfalls ein wie ein Komet mit einem Schweif aus Flamboyanz.

Erfinder des Glam-Rock

Anzeige

Das beeindruckte nicht nur den Filmemacher Nicolas Roeg so sehr, dass er für seinen Sci-Fi-Klassiker „The Man Who Fell to Earth“ drei Jahre später Bowie als außerirdische Hauptfigur besetzte. Auch Marc Bolan, Sänger von T. Rex, der – seit ihm vor einem Auftritt im Frühling ’71 jemand Glitter ins Gesicht gestreut hatte – Anspruch auf den Titel „Erfinder des Glam-Rock“ erhob, gab schließlich klein bei. Seine Federboas wippten zwar mindestens genauso doll, aber sie kamen eben nicht vom Mars.

Bolan war nicht der einzige, bei dem Bowie sich bediente. Wie immer bei den größten Künstlern, die neue Welten erschaffen, war alles nur geklaut. Bowies berühmter Satz „Die Revolution entsteht, indem man die anderen bis zur Auslöschung ignoriert“ bezieht sich zweifellos in erster Linie auf deren geistiges Eigentum. Ein verstimmter Mick Jagger kommentierte: „Trag nie neue Schuhe, wenn du David triffst.“

Bowie war in diesen Jahren – seit er punktgenau zu Neil Armstrongs Mondlandung 1969 seinen ersten großen Hit „Space Oddity“ hingelegt hatte, in dem Major Tom völlig losgelöst und, wie man jetzt ahnt, womöglich im Kaufrausch durchs Weltall driftete – auf Shopping-Tour in Sachen Inspiration. Sein Mars waren die USA. Bei Besuchen in New York hatte er Andy Warhol kennengelernt, eine Art versponnen-introvertiertes Alter Ego des megalomanischen Narzissten Bowie.

„Ein Song braucht einen Charakter“

Anzeige

Anzeige

Auf „Hunky Dory“, der Platte vor „Ziggy Stardust“, hatte er ihm einen Song gewidmet. Dazu kamen die Proto-Punks Lou Reed und Iggy Pop, dessen Vorname für Ziggy nur noch um ein“Z“ ergänzt werden musste – womöglich das Geräusch, das Iggy machte, als er sich nach einer Club-Tour mit einer Bierflasche selbst K.O. schlug.

„Ein Song braucht einen Charakter“, sagte Bowie später, „eine Form, einen Körper, er muss die Leute nicht nur als Song beeindrucken, sondern als Lifestyle.“ Iggy Pop und Lou Reed, der sich im Sinne Norman Mailers als“weißer Neger“ inszenierte, machten es vor. Dazu kam die Kabarett-Tradition der britischen Music Hall. Mit der männlichen Primaballerina Lindsay Kemp, der ihm Tanzstunden gab, hatte Bowie eine Affäre, die damit endete, dass Kemp sich die Pulsadern aufschnitt, aber überlebte.

Die Musik von „Ziggy Stardust“ spiegelt diese Einflüsse ebenso wieder wie die wilde Kostümierung und Bowies publicitywirksames Geständnis, er sei schwul. Dass das höchstens halb stimmte, hat seine Ehe mit dem Topmodel Iman Abdulmajid bewiesen. Bowies Sohn Duncon Jones dreht übrigens die interessantesten Science-Fiction-Filme der Gegenwart.

Rettung durch Liebe und Sex

Die Geschichte von „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“, wie der ganze Titel lautet, jedenfalls handelt vom gleichnamigen Rockstar, einem zugedrogten Messias, der die Menschheit durch Liebe und Sex vor einer kosmischen Katastrophe bewahren will. Seine Ausschweifungen entzweien ihn jedoch von Band wie Fans.

Der letzte Song markiert einen gloriosen „Rock’n’Roll Suicide“. Bowie überblendete damit das Schicksal eines weiteren Vorbilds, des exzentrischen Rockers Vince Taylor, mit seinem eigenen Leben und proji*zierte es auf die einzige Leinwand, die dieser Fantasie in Cinemascope gewachsen schien: das Universum. Umso besser, dass es allein aus sagenhafter Dunkelheit bestand, aus Eiseskälte, gesprenkelt mit Flecken unermesslicher Hitze.

„Sufragette City“ ist einer der besten Songs, die „The Velvet Underground“ nie aufgenommen haben. Überhaupt scheint das ganze Album wie ein Regenbogen, an dessen Enden zwei Goldtöpfe versteckt sind, die erst Jahre später einerseits die Punks und andererseits Freddie Mercury wieder ausgraben werden. Die Dynamik der Songs, der Wechsel zwischen sanft und brachial, ist atemberaubend, besonders in unserem mp3-Zeitalter, wo alles auf maximale Lautstärke zielt.

Bowies Stimme startet ins All

„Ziggy Stardust“, das unter den Top 20 der besten Platten aller Zeiten einen Stammplatz hat, ist voll von perfekten Songs, die mal Elton John („Ziggy Stardust“), mal Mick Jagger („It Ain’t Easy“) zur Ehre gereichen würden. Der science-fiction-hafteste Song aber ist „Moonage Daydream“, in dem eine Major-Tom-Akkustikgitarre das Breitwandriff des Anfangs ablöst. Dann hebt Bowies Stimme ins Weltall ab, getragen von Mick Ronsons E-Gitarre wie von einem zündenden Raketentriebwerk.

Zum 30. Jubiläum wurden 2002 vier Songs per Hochleistungslaser ins All gestrahlt. Zum 40. sollten wir uns selber auf den Weg machen, ihnen hinterher.

David Bowie: Der Tag, an dem Ziggy Stardust vom Mars kam - WELT (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Frankie Dare

Last Updated:

Views: 6281

Rating: 4.2 / 5 (53 voted)

Reviews: 92% of readers found this page helpful

Author information

Name: Frankie Dare

Birthday: 2000-01-27

Address: Suite 313 45115 Caridad Freeway, Port Barabaraville, MS 66713

Phone: +3769542039359

Job: Sales Manager

Hobby: Baton twirling, Stand-up comedy, Leather crafting, Rugby, tabletop games, Jigsaw puzzles, Air sports

Introduction: My name is Frankie Dare, I am a funny, beautiful, proud, fair, pleasant, cheerful, enthusiastic person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.